Um Deutschland in weniger als 25 Jahren klimaneutral zu machen, muss die nächste Bundesregierung sehr schnell sehr viel auf den Weg bringen. Das zeigt der Ariadne-Szenarienreport, der Transformationspfade zur Klimaneutralität 2045 erstmals im Modellvergleich ausbuchstabiert. Die Studie von mehr als 50 Forschenden aus mehr als zehn Instituten belegt: Die Stromerzeugung aus Wind und Sonne müsste bis 2030 etwa 50 Prozent größer sein, als bislang angepeilt. Der Ausstieg aus der zunehmend unwirtschaftlichen Kohle würde auf einem Kurs zur Klimaneutralität bereits um 2030 erfolgen. Erhebliche zusätzliche Kraftanstrengungen wären notwendig, um die Sektorziele für Industrie, Gebäude und Verkehr zu erreichen.
Klar ausformuliert sind im Klimaschutzgesetz lediglich die Klimaziele. Doch wie der beispiellose Strukturwandel zur Klimaneutralität 2045 über alle Sektoren hinweg gelingen kann, bleibt offen. Erstmals legt das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Kopernikus-Projekt Ariadne nun einen umfassenden Modellvergleich vor, der robuste Erkenntnisse zu Transformationspfaden, Spielräumen und Engpässen detailliert darlegt. Vom Gesamtsystem über einzelne Sektoren, von der direkten Elektrifizierung über Wasserstoff und E-Fuels bis hin zu Energieimporten: Zehn unterschiedliche Modelle wurden für die Studie integriert und sechs verschiedene Szenarien durchgerechnet.
„Klimaneutralität erreicht man nicht von heute auf morgen, deshalb müssen schon zu Beginn der nächsten Legislaturperiode wichtige Entscheidungen getroffen werden. Denn es gibt kaum kurzfristige Spielräume, um auf den Weg zu bringen, was in ein paar Jahren greifen soll – allem voran ein massiv beschleunigter Ausbau von Wind- und Sonnenergie“, erklärt Gunnar Luderer, Vize-Leiter des Ariadne-Projekts am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung PIK. Auf Kurs zur Klimaneutralität rücken zwar erneuerbarer Strom, grüner Wasserstoff, grüne E-Fuels sowie nachhaltig erzeugte Biomasse immer stärker an die Stelle der fossilen Brennstoffe Kohle, Öl und Gas. Demgegenüber stehen jedoch langlebige vorhandene Infrastrukturen, Gebäude- oder Fahrzeugbestände und Industrieanlagen. „In der Politik wird oft noch unterschätzt, wie tiefgreifend der notwendige Umbau zur Klimaneutralität 2045 ist“, so Luderer: „Fest steht: Scheitern wir am Meilenstein des Klimaziels 2030, werden wir wohl auch 2045 nicht klimaneutral sein.“
Industrie, Gebäude und Verkehr: Ziele der Nachfragesektoren ohne zusätzliche Anstrengungen nur schwer zu erreichen
Nicht überall lässt sich der Umstieg auf Erneuerbare Energien so direkt vollziehen, wie im Stromsektor. Die Transformation der Endnutzungssektoren Industrie, Gebäude und Verkehr stellt eine besonders große Herausforderung auf dem Weg zur Klimaneutralität dar. „Stehen heute noch fossile Brenn- und Rohstoffe im Mittelpunkt von zum Beispiel Stahl- oder Chemieproduktion, werden auf einem Kurs zur Klimaneutralität Strom und Wasserstoff künftig die wichtigsten Energieträger für die Industrie sein“, sagt Andrea Herbst, Ko-Leiterin des Ariadne-Arbeitspakets Industriewende am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI. „Der Zeithorizont bis 2030 ist dabei entscheidend, denn in diesem Zeitraum müssen CO2-neutrale Verfahren vom Pilot- und Demonstrations-Maßstab auf industrielles Niveau skaliert und wirtschaftlich betrieben werden“. Zentrale Herausforderungen sind dabei die höheren laufenden Kosten CO2-neutraler Technologien, der Infrastrukturausbau, die effektive Umsetzung von CO2-Preissignalen entlang der Wertschöpfungsketten und die Reduzierung von Unsicherheiten bezüglich großer strategischer Investitionen sowie eine klare Perspektive für den wirtschaftlichen, groß-industriellen Betrieb von CO2-neutralen Verfahren.
Vor allem die im Klimaschutzgesetz festgelegten Ziele für Gebäude und Verkehr werden im Modellvergleich trotz einer deutlichen Beschleunigung des Tempos der Emissionsminderungen in vielen Szenarien nicht eingehalten. „Um den Gebäudesektor auf Kurs zur Klimaneutralität zu bringen, zeigt der Modellvergleich die Notwendigkeit eines konsequenten Energieträgerwechsels und einer Steigerung von Sanierungsrate und Sanierungstiefe auf“, erläutert Christoph Kost, Ko-Leiter des Ariadne-Arbeitspakets Wärmewende am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE. Bis 2030 müsste die jährliche Sanierungsrate auf 1,5-2 Prozent steigen. 5 Millionen Wärmepumpen müssten installiert sein und etwa 1,6 Millionen Gebäude neu an das Fernwärmenetz angeschlossen sein. Er ergänzt: „Auch wenn bei einer Sanierungsrate von über 1,5 Prozent bis 2045 noch ein Viertel des Gebäudebestands unsaniert bleibt, muss trotzdem die Wärmebereitstellung CO2-neutral stattfinden, um die Klimaziele zu erreichen“.
Im Verkehrssektor zeigt der Modellvergleich die größte Diskrepanz zwischen Transformationspfaden und Sektor-Zielsetzung. Das größte Potenzial zur Emissionsminderung liegt dort, wo auch am meisten Emissionen entstehen: Im motorisierten Individualverkehr und im straßengebundenen Güterverkehr. „In dieser Dekade müssen wir bedeutende Schritte in der Antriebswende gehen“, sagt Florian Koller, Leiter des Ariadne-Arbeitspakets Verkehrswende am Institut für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt DLR. Mit mindestens 14 Millionen elektrisch betriebenen Pkw im Bestand des Jahres 2030 müsste die Elektrifizierung im Personenverkehr auf Kurs zur Klimaneutralität 2045 rund 40 Prozent höher liegen als zur Erreichung von Klimaneutralität im Jahr 2050. Damit einhergehen muss auch der notwendige Ausbau der Ladeinfrastruktur. „Das kurzfristige Potenzial der reinen Antriebswende ist jedoch durch lange Verweildauern der vorhandenen Verbrenner im Bestand begrenzt. Ohne zusätzliche Maßnahmen werden die Sektorziele 2030 nicht erreicht, mit zusätzlichen Maßnahmen nur schwer. Es braucht unter anderem auch Änderungen des Mobilitätsverhaltens, wie den Umstieg auf andere Verkehrsmittel.“
Angesichts der besonderen Herausforderungen bei der Transformation der Energienachfrage in Industrie, Gebäuden und Verkehr kommt dem schnellen Umstieg auf erneuerbaren Strom eine besonders wichtige Rolle zu: Einerseits kann so sichergestellt werden, dass die Elektrifizierung die maximale Klimawirkung entfaltet. Andererseits könnte eine Übererfüllung des Sektorziels der Energiewirtschaft das Risiko einer Zielverfehlung in anderen Sektoren abfedern.
Ausführlichere Informationen zum Adriane-Projekt finden hier.